Aline Frazao



Aline Frazão
Insular
(Jazzhaus Records)

Die Zutaten: Eine entlegene schottische Insel, ein portugiesischer Rocker, ein britischer Produzent - und die Songs und die Stimme einer Frau aus den Tropen. Klingt ein bisschen wie ein durchgedrehter Fantasyroman, oder? Doch genau dort, wo George Orwell einst seinen Erfolgsroman
1984 schrieb, ist aus der Vision der angolanischen Songwriterin Aline Frazão ein Werk von melancholischer Schönheit entstanden, das in der portugiesischsprachigen Welt bislang einmalig sein dürfte.

Auf dem Eiland Jura vor der schottischen Küste gibt es nicht viel: felsige Ufer, karge Wiesen, 200 Einwohner, einen Pub und den berühmten torfgeräucherten Whisky. Man kommt in Versuchung, sie für verrückt zu erklären, diese angolanische Musikerin, die sich ausgerechnet ein solches Fleckchen Erde als Entstehungsort für ihre dritte Platte aussucht. Doch Aline Frazãos musikalisches Universum ist eben etwas anders gestrickt, scheut nicht die verschlungenen Pfade, die ungewöhnlichen Abzweigungen.

Die 27-jährige stammt aus Angolas Hauptstadt Luanda, und zunächst liest sich ihre Biographie ein wenig wie die vieler Kolleginnen des lusophonen (portugiesischsprachigen) Kulturraums. In ihren Jugendjahren singt sie Fado, Jazz und brasilianischen Pop, traditionelle Musik aus Angola und den Kapverden. Mit fünfzehn siedelt sie nach Lissabon über. Als sie beginnt erste Songs zu schreiben, sind die noch klar beeinflusst von Bossa Nova. Auf Reisen von Buenos Aires bis Dublin sammelt sie viele Erfahrungen bei Auftritten in kleinen Bars und Clubs, und das Projekt
A Minha Embala (2009), an dem sie sich beteiligt, ist ein Trip durch die verschiedenen lusophonen Kulturen. Mit ihrem ersten eigenen Album Clave Bantu (2011) erztählt sie die Geschichte ihres afrikanischen Volkes, das über den Ozean nach Brasilien und Kuba aufbricht. Mit ihrem zweiten Werk Movimento (2013) schält sie immer mehr eine eigenständige Klangsprache heraus, die die afrikanischen Wurzeln zugunsten einer selbstbewussten Indierock-Attitüde zurücktreten lässt. Für die Texte ihrer Lieder bezieht sie tiefgründige, bilderreiche Verse namhafter angolanischer Poeten.

Die Geschichte hinter Frazãos drittem Werk
Insular ist so abenteuerlich wie schlüssig, und sie beginnt - eine kuriose Wendung mehr - eigentlich in der zentralasiatischen Republik Tuva. Dort brach 2009 der Sänger Albert Kuvezin von der Rockgruppe Yat-Kha auf, um Inspirationen für sein neues Album an einem Ort zu suchen, der den denkbar größtmöglichen Gegensatz zu seiner Heimat darstellte. Vom Grasland der Steppe ging es  nach Jura in den Nordatlantik, wo der Brite Giles Perring gerade sein Studio The Sound Of Jura aufgebaut hatte. Aus dem landschaftlichen Schock entstand die Produktion Poets And Lighthouses. Als Carlos Seixas, Veranstalter des Festival Música do Mundo seiner Freundin Aline Frazão diese verrückte Story erzählt, geht ihr die schottische Insel nicht mehr aus dem Kopf. Denn auch sie ist auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich wie einst Kuvezin musikalisch neu definieren kann.

Dann macht sie Nägel mit Köpfen: Ein Anruf bei Perring enthüllt, dass der Brite von lusophonen Klängen wenig Ahnung hat, nicht einmal den Namen Cesaria Evora kennt. "'Fantastisch!' dachte ich mir, jemand, der völlig andere Referenzen hat als ich", erinnert sich Frazão an den Erstkontakt. Doch während die Angolanerin die Songs für die Session vorbereitet, geht ihr tausend Mal durch den Kopf, dass ihr Plan schon "ein wenig durchgedreht" ist. Fest steht für sie, dass sie jegliche Stereotypen angolanischer, brasilianischer oder jazziger Töne abschütteln will. Ein Sprung ins kalte Wasser, im wahrsten Sinne des Wortes. Um die Neuerfindung ihrer selbst perfekt zu machen, beschließt sie, den Sound um eine Stromgitarre zu gruppieren - und nicht etwa um irgendeine: Für den elektrifizierten Part der Arrangements kontaktiert sie Pedro Geraldes, den Gitarreiro von Linda Martini, der derzeit bekanntesten Rockband Portugals. Geraldes entpuppt sich als der perfekte Kitt fürs Klangbild, mit seinem Indierockhintergrund einerseits und seiner Schwäche für afrikanische Gitarrensounds andererseits.

Und so nehmen die Visionen von
Insular ihre großartige Gestalt an - Visonen, die mit dem träumerischen Titelstück beginnen, in dem sie von ihrer Annäherung an die Insel erzählt, in deren Einsamkeit sie die Sterne und den Himmel lesen lernte. Visionen, die sich verführerisch in der Verzahnung von Akustikgitarre und Harfe in "Império Perdido" winden. Und die schließlich in einem Stück wie "Mascarados" gipfeln, voll sinnlichem Melos, wie man es von der Brasilianerin Marisa Monte kennt, und Geraldes malt dazu mit seiner Gitarre einen vielschichtigen Soundtrack zwischen Seufzen und Sägen.

Freilich ist das Album weit entfernt von lethargischem Nebel: In "O Som Do Jacarandá" malt Frazão Bilder von einer Stadt aus Palisander, in der Blütenstaub weht und der Klang des Meeres herantost, eine Erinnerung an ihre afrikanischen Wurzeln mit querständigen Tanzrhythmen. "Langidila" ist ihre Verbeugung vor dem angolanischen Unabhängigkeitskämpfer Deolinda Rodrigues, den sie mit Spoken Word-Versen und einem Groove ehrt, der geradewegs von den marokkanischen Gnawa kommen könnte. Geradezu ruppig kommt "A Louca" daher, die Gitarre beißt und schreit, während sie die Verse der Rapperin Capicua aus Porto interpretiert - diese erzählen von einer missbrauchten Frau, die verrückt geworden ist. Und der krachige Höhepunkt ist mit "A Prosa Da Situação" erreicht, das in wütenden Metaphern von einem Königreich der Unterdrückung berichtet.

Schließlich bricht Aline Frazão sogar an die Gestade der Weltliteratur auf: "O Homem Que Queria Um Barco" (Der Mann, der nach einem Boot verlangte) ist ihre Version von "O Conto Da Ilha Desconhecida", eine Erzählung des Nobelpreisträgers José Saramago. In meisterhafter Dramaturgie mit Harfengirlanden und nachdenklicher Klarinette setzt sie diese Geschichte von der Suche nach der unbekannten Insel um, die sie während der Aufnahmen auf Jura ja auch als Suche nach sich selbst durchlebt hat. Im Finale schließlich, um den Bogen der Reise zurückzuschlagen, läuft sie in einen heimatlichen Hafen ein: "Susana" ist eine unverkennbare Reverenz an die Semba-Rhythmen Angolas, mit beschwingter Akustik und Zeilen auf Kriolu.

Insular ist eine wunderbare, aufregende Erzählung von einer Frau aus den Tropen, die in der Isolation des Nordatlantiks das ideale melancholische Setting für ihre poetischen Klanggemälde fand.            
  
 
“Kurz darauf zieht ihre Stimme alle in den Bann und das Lachen verstummt – so wie jedes Geräusch bis auf den Regen, der auf’s Zeltdach trommelt und sich harmonisch zu Marcos Alves’ Schlagzeug gesellt. Die Klangkulisse ist perfekt, fast surreal. Und mit geschlossenen Augen hört man Frazao nicht mehr als 26-jährige die wie selbstverständlich in leichten Sandalen und langem Jerseykleid auf der Bühne steht. Mit geschlossenen Augen ist sie viele, alt und jung, wissend und weise, aber immer voller Emotion und Energie. [...] Es ist egal, welche Sprache sie singt. Ihre Lieder hallen nach und gehen tief.”
SCHWÄBISCHE ZEITUNG

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